„Wir sind eng vernetzt mit Kirche und Diakonie“

Interview mit Claudia Rehmann, Leiterin der Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstelle für Suchtkranke des Diakonieverbands Schwäbisch Hall.

Claudia Rehmann

Mit welchen Problemen kommen die Menschen zu Ihnen?
Im Mittelpunkt steht bei der Suchtberatung der ganze Mensch. Darum kommen bei uns alle möglichen Konfliktbereiche zur Sprache. Suchtspezifische Probleme sind beispielsweise der Führerscheinverlust bei Alkoholabhängigen, die Suche nach einem Substitutionsarzt bei Opiatabhängigen oder die finanziellen Probleme bei Spielsüchtigen. Aber auch: „Bin ich überhaupt abhängig?“ oder: „Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?“ In der Beratung und Behandlung sprechen wir auch über traumatisierende Erlebnisse, konflikthafte Beziehungen in Familie, Arbeitsstelle oder Freundeskreis, Selbstwertprobleme, Probleme bei der Wohnungssuche, Schulden, gesundheitliche Probleme allgemein und vieles mehr.

Wie sieht der Alltag in einer Suchtberatung aus?
Mein Arbeitsalltag fängt normalerweise kurz nach 7 Uhr an. Dann sitze ich entweder im Auto, um an eine Außenstelle zu fahren, oder an meinem Schreibtisch in Schwäbisch Hall, um Mails und Post des Vortags durchzuarbeiten. In der Regel habe ich dann über den Tag verteilt mehrere Einzelgespräche bzw. eine Gruppe. Da ich auch einen Anteil betrieblicher Suchtarbeit habe, kann es auch sein, dass ich diesen Betrieb aufsuche, um dort eine Sprech- oder Gruppenstunde abzuhalten. Auch die Zeit für die Erstellung von Sozialberichten, Vernetzungsaufgaben oder die organisatorischen Aufgaben der Dokumentation und Evaluation müssen terminiert werden. Als Team sehen wir uns nur zu den monatlichen Team- und Ambulante-Reha-Besprechungen und zur Supervision. Andere Mitarbeitende sind in der Zeit, in der ich in der Hauptstelle bin, beispielsweise in der Justizvollzugsanstalt oder im Krankenhaus als aufsuchende Drogenberater tätig. Da sich unser Einzugsgebiet über vier Kirchenbezirke erstreckt, kommt es selten vor, dass mehr als zwei Mitarbeitende gleichzeitig am gleichen Arbeitsort sind. Dafür sind wir in den Kirchenbezirken mit den anderen Dienststellen des Diakonieverbands eng vernetzt, was uns die Vermittlung anderer Hilfen – kostengünstige Kleidung oder Schwangerenberatung – sehr erleichtert.

Mit welchen Herausforderungen haben Sie in der Suchtberatung zu kämpfen?
Es sind viele Themen, die uns gleichzeitig beschäftigen: Kindeswohlgefährdung, Ausbau der Ambulanten Rehabilitation, Ärztemangel beim Thema Substitution, Fachkräftemangel, gesteigerte Anforderungen bei der Dokumentation im Bereich „Aufsuchende Arbeit in der JVA“, Thema gewaltbereite Klienten und Schutz der Mitarbeitenden, Mangel an bezahlbaren Wohnraum und Zunahme von Armut,  Zunahme an Klienten mit zusätzlicher psychiatrischen Diagnose. Dies ist keine vollständige Auflistung. Die große Herausforderung besteht darin, sich in dieser Vielzahl nicht zu verzetteln, und darin, selbst gesund zu bleiben.

Wie hat sich die Arbeit durch Corona verändert?
Zuerst einmal hatte sich alles verändert, da unsere Beratungsstellen nicht mehr für den Publikumsverkehr zugänglich waren. Zwei Wochen lang haben wir Konzepte für die Coronazeit entwickelt, Trennscheiben und technisches Gerät für Videokonferenzen und Homeoffice angeschafft. Wir haben schnell auf telefonische Beratungen und Briefe oder auch auf Spaziergänge mit den Klienten umgestellt. Telefonberatungen funktionierten bei manchen Menschen gar nicht, bei anderen besser als persönliche Gespräche. Eine Wahrnehmung war, dass sich vermehrt rückfällige Menschen anmeldeten. Sorge bereiteten mir vor allem die Menschen, die ich nicht mehr erreichte, weil die Adresse oder Telefonnummer nicht mehr stimmte und die sich stark zurückzogen. Sorgen bereitet natürlich auch, dass wir davon ausgehen müssen, dass unser Klientel wegen der gesundheitlichen Schädigungen, die Suchterkrankte häufig haben, zu den Hochrisikogruppen zählt. Mit die größte Veränderung betrifft bei uns die Gruppenarbeit. Wir haben nicht überall das Glück, so große Räume zu haben.

Karte des Kreis Schwäbisch Hall.

Wie hat Corona die suchtkranken Menschen betroffen?
Corona ist eine neue und unberechenbare Krankheit. Dies führt zu großen Verunsicherungen und damit zu mehr Ängsten und Sorgen. In solchen Krisen steigt natürlich die Gefahr, wieder zu altbekannten Suchtmitteln zu greifen, die kurzfristig Erleichterung verschaffen. Andere waren durch den Lock-Down insoweit betroffen, dass neu aufgebautes positives Freizeitverhalten und Tagesstruktur nicht mehr möglich waren. Dies erhöht ebenfalls die Rückfallgefahr. Kurzarbeit und Homeoffice verstärken häusliche Konflikte und wirken sich stark auf die Angehörigen von Suchterkrankten aus. Und die Doppelbelastung vieler Frauen, die neben ihrer Berufstätigkeit jetzt auch noch Lehrerin sein sollten, führt zu Überforderungen, zu Konflikten und damit steigt das Risiko des Suchtmittelmissbrauchs. Gleichzeitig fehlen soziale Kontakte, die uns helfen, aus Gedankenspiralen herauszufinden und lösungsorientiert zu denken.

Was wünschen Sie sich für die Suchtberatung im kommenden Jahr?
Nicht nur für die Suchtberatung wünsche ich mir vor allem, dass ein Impfstoff gegen Corona entwickelt werden kann und dass sich viele impfen. Für die Suchtberatung wünsche ich mir weniger Bürokratie und von allen Kostenträgern eine große Bereitschaft, ihren Versicherten bei einer chronischen Krankheit schnelle therapeutische Hilfe zukommen zu lassen. Und für unsere Opiatabhängigen wünsche ich mir, dass ganz viele Ärztinnen und Ärzte ihre Angst vor Drogenabhängigen in der Arztpraxis und vor der Substitutionsbehandlung abbauen können.

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