Aus Kirche wird Wohn- und Lebensraum
Aus alt mach neu: Kirchliche Gebäude gekonnt und gezielt umzunutzen ist zukunftsweisend.
Die Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Wendlingen beginnt mit einer Herausforderung: Ein umfangreicher, aber sanierungsbedürftiger Immobilienbestand. Statt Stückwerk zu betreiben, entschied sich die frisch fusionierte Gemeinde für einen mutigen Neuanfang – mit dem Ziel, Kirche zukunftsfähig, offen und inklusiv zu gestalten. Dabei wurde der zentrale Standort der baufälligen Johanneskirche in der Stadtmitte erhalten, jedoch durch einen Neubau ersetzt. In Kooperation mit der BruderhausDiakonie entstand nach zehn Jahren Planung und zweijähriger Bauzeit das Johannesforum, ein Ort gemeinschaftlichen Lebens und Begegnens.
Das Johannesforum vereint kirchliche Gemeinderäume mit einem Unterstützungszentrum der BruderhausDiakonie. Dort leben 23 Menschen mit Behinderung, erhalten Betreuung und Tagesstruktur. Die Kooperation war nicht nur ein bauliches, sondern ein soziales und theologisches Projekt. Die Gemeinde stellte sich der Frage: „Mit wem sind wir Kirche?“ und erkannte: Barrierefreiheit beginnt im Kopf. Inklusion bedeutet nicht, dass alles für alle jederzeit möglich ist – sondern dass Vielfalt willkommen ist, in einem Rahmen, der laufend reflektiert und angepasst werden muss.
Das Johannesforum steht heute für Offenheit, Teilhabe und Miteinander. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich auf Augenhöhe – in Gottesdiensten, beim Kaffee, bei Kultur oder Beratung. Inklusion wird dabei als gemeinsame Haltung verstanden, nicht als abgeschlossene Maßnahme. Sie erfordert kontinuierliche Arbeit, gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, Grenzen und Möglichkeiten immer wieder neu auszuhandeln.
Das Johannesforum ist ein erlebbarer Ort der gelebten Inklusion geworden. Und in Wendlingen am Neckar ist er als Lebensraum für viele nicht mehr wegzudenken.
Beispiel Reutlingen: Nach über 15 Jahren Planung ist es so weit: Die Reutlinger Christuskirche wird zu einem Diakonischen Zentrum umgebaut. Der Abschied von der alten Nutzung war emotional – Kirchenbänke entfernt, die Orgel reist nach Italien, das Pfarrhaus ist abgerissen. Der Umbau soll bis zum 1. Advent 2026 abgeschlossen sein.
Die Kirche, 1936 bewusst im Sinne der Bekennenden Kirche gebaut, verlor zunehmend ihre Funktion als Gemeindekirche. Nur noch wenige Kirchenmitglieder leben im Quartier. Zwar beliebt für Konzerte, reichten diese nicht aus, um das Gebäude langfristig zu erhalten. Ziel war, das Schicksal eines ähnlichen Gebäudes – dem Zerfall nach Investorenkauf – zu vermeiden und die Kirche stattdessen sinnvoll weiterzuentwickeln.
Die Vision: Die Christuskirche wird Teil eines neuen, gemeinsamen Ortes für Kirche, Diakonie und Stadtgesellschaft. Gemeinsam mit dem Diakonieverband Reutlingen, der neue barrierefreie Räume für seine rund 50 Mitarbeitenden und zahlreiche Angebote braucht, sowie der BruderhausDiakonie, entsteht ein multifunktionales Zentrum. Es wird Beratungsangebote, Wohnraum – auch für Menschen mit Behinderung – und Treffpunkte wie Vesperkirche und Multicafé beherbergen. Auch die Gemeinde bleibt präsent: Gottesdienste, Konzerte und Veranstaltungen sollen weiterhin möglich sein.
Der Weg war komplex: Widerstände etwa vom Denkmalamt, Fragen zum Brandschutz und Bürgerproteste wurden durch transparente Kommunikation, Beteiligung und kreative Lösungen (z. B. Flächentausch für grüne Freiflächen) gemeistert. In „ständigen Werkstätten“ konnten Anwohner mitgestalten. Der Architektenwettbewerb führte 2022 zum Siegerteam a+r (Stuttgart/Tübingen), das mit allen Beteiligten ein funktionales und nachhaltiges Konzept entwickelte – trotz stark gestiegener Baukosten (von 13 auf 21 Mio. €). Finanziert wird das Projekt über Fördermittel und Mieteinnahmen.
Die Christuskirche wird so zu einem Symbol der Einheit von Kirche und Diakonie, zu einem offenen, sozial orientierten Quartierszentrum – mit klarem ökologischem Profil (Geothermie, PV, nachhaltige Mobilität) und einem starken Bezug zur Stadtgesellschaft. Ein Projekt mit langer Vorbereitung – und einem weiten Sprung in die Zukunft.
